Ein Mehr an Wirklichkeit und seine Täuschungen

Ein Mehr an Wirklichkeit und seine Täuschungen. Über Hans Erich Nossacks unveröffentlichten Aporée-Roman von 1952/53. In: Hans Erich Nossack. Leben, Werk, Kontext. Hg. von Günter Dammann. Würzburg 2000, 149–174.

Das ‚Aporée‘-Projekt hat Nossack fast sein ganzes Schriftstellerleben lang begleitet und ist dann fast wider Willen 1975 doch noch als „Ein glücklicher Mensch“ veröffentlicht worden. Präsentation des Romans in der Fassung von 1952/53 aus dem Nachlass-Typoskript. Der Protagonist (Stefan Schneider) kommt unter dem Namen ‚Paul Direng‘ in die offenbar überseeische Kolonie ‚Aporée‘; ‚Aporée‘ soll als Palindrom von ‚Europa‘ gelesen werden, wie das Spiel mit anagrammatischen Namen den Text überhaupt prägt. Das (Fragment gebliebene) Romanmanuskript erzählt von mehreren, manchmal dort schon länger lebenden Kolonisten und Kolonistinnen und konzipiert den Raum, in dem sie leben, als ein emblematisches Terrain. Nossack lässt seine Personen (neben dem Erzähler Direng vor allem den gescheiterten Schriftsteller Naleco) Konstellationen immer wieder repetieren und dabei bereden. Es zeigt sich zunehmend, dass das Romanpersonal vor allem an den ihm aufgenötigten biologischen und sozialen Reproduktionszusammenhängen leidet. Die nach Karl Jaspers in die Nossack-Deutung begrifflich eingeführte ‚Grenzsituation‘ wäre immer nur in Richtung auf Regression und Selbsttäuschung offen.

Glosse

Im Aufsatz über Hans Erich Nossacks unveröffentlichten Aporée-Roman habe ich S. 151 formuliert, dem Protagonisten Stefan Schneider werde bei seiner Übersiedlung nach Aporée „wie allen Kolonisten ein Kunstname zugeteilt [...], der in seinem Fall ‚Paul Direng‘ lautet“. Im November 2016 machte mich nun Herr Torsten Steinberg (Porta Westfalica) darauf aufmerksam, dass die Annahme, bei dem Namen handle es sich um eine fiktive Bildung, ein Irrtum sei. Es habe vielmehr einen realen Paul Direng gegeben. – Bevor ich dies weiter ausführe, möchte ich doch aus der Passage zitieren, in der Schneider, der Erzähler, auf den ihm zugeteilten Namen zu sprechen kommt:

Ich betrachte mir den Ausweis. Er ist mit einem Lichtbild von mir versehen. [...] Auf der anderen Seite steht: Paul Direng, mit Schönschrift geschrieben. Und darunter: 43 Jahre. [...] Das alles scheint zu stimmen. [...] Was den Namen anlangt, so habe ich während der Fahrt hierher zuweilen darüber nachgedacht, doch das auch nur, weil ich sonst nichts zu tun hatte. Ich wäre von selber nie auf den Vornamen Paul gekommen, wenn man mir die Wahl gelassen hätte. Und was den seltsamen Namen Direng betrifft, so kann ich ihn mir schon überhaupt nicht erklären. Vielleicht ist es eine Art Kodewort, und jeder Buchstabe bedeutet etwas. Das D z. B. meine Herkunft, das I meine Fähigkeiten oder meinen Beruf, das R etwa mein Vorleben und ob ich verheiratet bin usw. usw. Im Grunde interessiert es mich nicht sehr, es belustigt mich eher.1

Ich zitiere dies nicht (nur), um Verständnis für meinen Irrtum zu erwirken, sondern um die Diskrepanz ins rechte Licht zu rücken, die sich zwischen einer solchen ironisch-dissimulierenden Behandlung des Namens in der Narration einerseits und der vermutbaren Nähe Nossacks zu einem wirklichen Paul Direng andererseits auftut.

Mit etlichen mir in der Zwischenzeit von Torsten Steinberg übermittelten biographischen Daten zu Direng und Hinweisen auf einzelne im Netz zu findende Werke des Malers versehen, habe ich mich auf einen kurzen Weg durch einschlägige Archive gemacht. Den schmalen Ertrag stelle ich im folgenden vor.

Paul Theodor Direng wurde am 29. September 1869 als Sohn des Küpermeisters Georg Wilhelm Direng und seiner Ehefrau Emma geb. Schleich in der Holländischen Reihe Nr. 14 (Kirchspiel St. Michaelis) in Hamburg geboren.2 Die Ehe der Eltern war bereits 1853 geschlossen worden; die Annahme liegt nahe, dass Paul Theodor nicht das erste Kind des damals 50jährigen Vaters und der 37jährigen Mutter war. Unter einem ‚Küper‘ wird man sich in Hamburg einen (selbständigen) Kontrolleur der im Hafen eintreffenden Waren vorzustellen haben, einen ‚Quartiersmann‘, wie der modernere Begriff lautet, der zugleich im Auftrag Warenkontingente einlagerte und in Kommission hielt. Die Fa. G. W. Direng ist denn auch mit größeren Lagern im Adressbuch vertreten. Unter dem gleichen Familiennamen gab es in Hamburg zur selben Zeit eine zweite Firma, die vom Kaufmann Hermann Friedrich Direng betrieben wurde und sich wohl auf den Kaffeehandel spezialisierte; H. F. Direng und Hermann Direng (vermutlich ein Sohn von H. F.) werden im ersten Mitgliederverzeichnis des 1884 gegründeten Vereins der am Caffeehandel betheiligten Firmen geführt.3

Die Gründe, aus denen Paul Direng als Sohn eínes Unternehmers aus der Großhandelsbranche sich für ein Leben als Künstler entschied, sind uns unbekannt, wie die Informationen über seine Biographie und sein Werk ohnehin äußerst spärlich fließen. Immerhin zeigt der Sujetbereich, dem der Maler sich widmete, große Nähe zur beruflichen Welt des Vaters; zu bedenken ist auch, dass die väterliche Firma wohl nicht an Paul als (mutmaßlich) nachgeborenen Sohn gegangen wäre.

Eine formale Ausbildung hat Direng an der Kunstakademie München erhalten. Nach Ausweis der dortigen Matrikelbücher ließ er sich am 28. Oktober 1895 einschreiben; der Vater erscheint hier als Kaufmann. Der Student hat die ‚Komponierklasse‘ des Professors Heinrich von Zügel gewählt.4 Auffällig ist das Alter des Immatrikulierten, der Studienanfänger zählte bereits 26 Jahre. Dass Paul in den Vorjahren in nicht-künstlerischen Bereichen gearbeitet hatte, ist möglich, aber vielleicht nicht unbedingt wahrscheinlich. Gerade die Wahl von Lehrer und Schwerpunkt deutet eher auf gezielte Spezialisierung innerhalb einer schon ausgeübten künstlerischen Tätigkeit, die dann vielleicht durch einen nicht-akademischen Unterricht vorbereitet worden war. Zügel (1850–1941), 1895 gerade nach München berufen, galt als Spezialist für Genremalerei, sein bevorzugtes Sujet waren Tiere in Pleinair-Szenen; dass Direng sich diesen Lehrer wählte, wird man wohl so verstehen dürfen, dass auch er sich anschickte, sich auf ein einheitliches Sujet auszurichten – das in seinem Fall zur Spezialisierung als Marinemaler führen sollte. Das Studium in München betrieb Direng über drei Jahre.5 Während dieser Zeit gelang es ihm auch, einen Kontakt zur Zeitschrift Simplicissimus zu knüpfen und in deren erstem Jahrgang (1896/97) einige gemäßigt sozialkritische Karikaturen zu veröffentlichen.6

Für die anschließende berufliche Tätigkeit des Malers haben wir einige Daten zu seinen Aufenthaltsorten, aus denen sich indessen ein Werdegang allenfalls erahnen und nicht rekonstruieren lässt. Bis zum Antritt des Münchner Studiums wohnte Direng, der vom Militärdienst zurückgestellt worden war, in der Victoriastraße Nr. 11 in der Hamburger Vorstadt St. Georg zur Untermiete; der Gebäudekomplex Nr. 11 bis 25 beherbergte laut Auskunft der Adressbücher seinerzeit auch Lagerräume der Fa. G. W. Direng.7 Mit derselben Adresse, die heute übrigens zum Stadtteil Hammerbrook gehören würde, führt noch ein Künstlerverzeichnis von 1898 unseren Mann.8 Im Herbst 1905 sowie Anfang 1906 verzeichnet das Melderegister kurz nacheinander zwei neue Adressen (Venusberg 23 und Büschstraße 7) des unverheirateten Untermieters, bevor der sich dann im September 1906 aus der Stadt abmeldet und nach Altenbruch bei Cuxhaven zieht.9 Ende 1912 erfährt man im Hamburger Amt, dass Direng mittlerweile in Berlin wohnt. Zwar kann die Heimatstadt den Maler im Jahre 1916 noch für kurze Zeit wieder unter ihre Einwohner zählen (Adresse jetzt Reeperbahn Nr. 154), aber am 3. August meldet er sich für die Reichshauptstadt ab. Als ein etwas späteres Dokument liegt ein Passregister-Eintrag vom 27. Mai 1918 vor, dass dem „Kunstmaler“ Paul Direng, „St[aats-]A[ngehörigkeit] Hamburg“, ein Pass für den Zielort „Inland u. Belgien“ ausgestellt werde.10

An konkreten Aktivitäten aus diesem Zeitraum ist bis heute kaum etwas bekannt. 1896 durfte bereits der Student sich an der Internationalen Kunstausstellung in Berlin mit einem Bild des Titels Marine beteiligen; für 1903 ist der Maler dann auf der Jahresausstellung der Münchner Künstlergenossenschaft vertreten, er präsentierte dort die Gemälde Morgen im Hafen und Herbsttag auf der Elbe.11 Im Juli 1907 konnte er sich an der Jubiläumsausstellung des zehn Jahre vorher gegründeten Hamburgischen Künstlerclubs beteiligen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass sich in diesen Jahren vor dem Krieg auch eine (titellose) Hafenansicht Direngs im SPD-Blatt Der wahre Jacob findet.12 Weitere Auftritte im öffentlichen Bereich sind mir mit Nachweisen nicht zur Kenntnis gekommen.13 Die einschlägigen großen Hamburger Museen, die Kunsthalle und auch das Internationale Maritime Museum, verfügen nach eigener Auskunft weder über Dokumente noch über Bilder Direngs.

Für Berlin ergab die Durchsicht der zuständigen Adressbücher, dass der Hamburger erst 1924 mit einer eigenen Anschrift Wexstraße 31 in Wilmersdorf gemeldet war. Die gleiche Adresse erscheint dann von 1928 an fast regelmäßig (Ausnahmen 1930, 1937f. u. 1940), wobei die Berufsangaben als „Maler“, „Marinemaler“ oder auch „Kunstmaler“ variieren. Am 17. November 1927 heiratete der fast Sechzigjährige erstmals; freilich wurde die Ehe schon bald, am 5. April 1931, wieder geschieden.14 Im Jahre 1943 stellte Direng einen Antrag bei der berufsständischen Selbsthilfeorganisation Künstlerdank mit der Bitte um Unterstützung. Die wenigen Blätter dieses Vorgangs, der in den Bereich der Reichskammer der bildenden Künste fiel (deren Mitglied Direng nicht war), zeigen ein beklemmendes Bild der Lebenslage des alten Mannes.15 Nur bis zum Jahre 1931 künstlerisch tätig gewesen, müsse er, mittlerweile 74jährig und auf einem Auge blind, mit einem monatlichen Betrag von (nach Abzug der Miete) etwas mehr als 35 RM auskommen; daher bitte er, wie es dann die (befürwortende) Stellungnahme zum Antrag formuliert, um „eine laufende Unterstützung aus der Spende ‚Künstlerdank‘“. – Zum tristen Ende dieser Lebensgeschichte gehört schließlich, dass Direng, seit dem 5. Mai 1944 in der Livländischen Straße 16 in Wilmersdorf (wieder zur Untermiete) wohnend, „nach dem 8. 5. 1945 meldepolizeilich nicht erfasst“ ist.16

Hans Erich Nossack hat den Namen des (ziemlich genau eine Generation älteren) Malers Direng gekannt, wie das Ms. des Aporée-Romans von 1952/53 belegt. Das ist nicht verwunderlich, werden doch im Haus des (allerdings erst 1895 nach Hamburg gekommenen) Kaffee- und Kakao-Importeurs Eugen Nossack die Namen der in verwandter bzw. gleicher Branche tätigen Direngs geläufig gewesen sein. Gerade Paul Direng dürfte darüber hinaus als Kasus eines aus dem Kaufmannsstand entsprungenen Künstlers bekannt und schon dem jungen Hans Erich als Memento wichtig geworden sein. Wenn der Schriftsteller dann anfangs der fünfziger Jahre an einer für seine literarische Existenz kardinalen Stelle des Œuvres den Namen des Malers in einer Art von klandestiner Selbstverständigung einbringt, ist damit freilich nicht von vornherein und selbstverständlich klar, wie der Vorgang zu deuten ist. Die von Gleichgültigkeit und auch von Spott durchtränkten Formulierungen der eingangs zitierten Passage aus dem unveröffentlichten Aporée-Roman von 1952/53 müssen eingeschätzt und gewertet werden. In Anschlag zu bringen ist dabei nicht zuletzt, dass die fast ein Vierteljahrhundert später zu datierende veröffentlichte Version des Stoffes, Ein glücklicher Mensch (1975), den Namen Direng aus den Kontexten komplett entfernt hat. All dies zu interpretieren, ist nicht mehr die Aufgabe dieser glossierenden Intervention. Immerhin darf ich als meinen Eindruck formulieren, dass über den wenigen Bildern, die ich nun von Paul Direng gesehen habe, allesamt ‚Seestücken‘, eine schwer beschreibbare sinistre Aura liegt, die demjenigen, der die fiktionale Welt von Aporée entwarf, entschieden zugesagt haben könnte.

  • 1. Zitiert nach dem erneuten Abdruck des Kapitels „Ankunft in Aporée“ (Erstdruck in Von aufgegebenen Werken 1968) in: H. E. N.: Die Erzählungen. Hg. von Christof Schmid. Frankfurt a. M. 1987, S. 657–679, hier 662.
  • 2. Geburtsurkunde: Staatsarchiv Hamburg 332–3 Zivilstandsamt A 76, Nr. 5677.
  • 3. Abgedruckt bei Frank M. Hinz: Planung und Finanzierung der Speicherstadt in Hamburg. Gemischtwirtschaftliche Unternehmensgründungen im 19. Jh. unter bes. Berücksichtigung der Hamburger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft. Münster [u. a.] 2000, S. 298f.
  • 4. Angaben nach: Digitale Edition der Matrikelbücher der Kunstakademie München (matrikel.adbk.de), Matrikelbuch 3 (1884–1920), Matrikelnummer 1456; dass der Name hier als „Direug, Paul“ erscheint, ist offensichtliches Schreib- oder Leseversehen.
  • 5. Die Information, Direng habe in München studiert und sei „3 Jahre Schüler von Professor Zügel“ gewesen, findet sich in der Akte Bundesarchiv R 9361-V/99396, Stellungnahme zu einem Antrag Direngs von 1943, auf den ich noch zu sprechen kommen werde.
  • 6. Simplicissimus. Jg. 1 (1896/97), Nr. 31 (31. Okt. 1896), S. 3; Nr. 45 (6. Febr. 1897), S. 5; Nr. 46 (13. Febr. 1897), S. 6.
  • 7. Verfilmtes Melderegister: Staatsarchiv Hamburg 741–4 Fotoarchiv, K 4370 D (Direng, *Paul* Theodor). Die Hamburger Adressbücher sind (nur noch) digitalisiert im Netz zugänglich.
  • 8. Adreßbuch von Bildenden Künstlern der Gegenwart. Jg. 1898. Hg. v. Adolf Bothe. München [1898], S. 57: „Direng, Paul, Ma[rine]m[aler], Hamburg, Victoriastr. 11“.
  • 9. Diese und die noch folgenden Angaben wieder nach dem verfilmten Melderegister (Anm. 6).
  • 10. Passregister, zitiert nach der Netzveröffentlichung: Die MAUS – Gesellschaft für Familienforschung e. V. Bremen.
  • 11. Internationale Kunst-Ausstellung Berlin 1896 zur Feier des 200jährigen Bestehens der Kgl. Akademie der Künste. Katalog. 2. Aufl. Berlin [1896], Nr. 529 (S. 29); für Direng wird als Wohnsitz München genannt. Offizieller Katalog der Münchener Jahres-Ausstellung 1903 im Kgl. Glaspalast. [Hg. von der Münchener Künstlergenossenschaft.] 2. Ausg. v. 25. Juni 1903. München [1903], Nr. 216 u. 217 (S. 33); Direng wird mit Münchener Adresse und als Mitglied der Münchener Künstlergenossenschaft geführt.
  • 12. Der wahre Jacob. Jg. 29 (1912), Nr. 683 (21. Sept.), S. 7638–7652, die Graphik S. 7642.
  • 13. Lediglich die erwähnte Stellungnahme von 1943 (Anm. 5) versichert in allgemeiner Form: „D. [...] beteiligte sich an allen großen Ausstellungen mit Erfolg.“
  • 14. Briefliche Mitteilung des Landesarchivs Berlin vom 21. Juni 2017 nach Recherchen im Bestand B Rep 021.
  • 15. Akte Bundesarchiv R 9361-V/99396; vgl. Anm. 5.
  • 16. Wie Anm. 14.