Christian Felix Weiße, Atreus und Thyest (1766) – die Aktualisierung Senecas im Trauerspiel der deutschen Aufklärung. In: Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne. Zweites Bruno-Snell-Symposion der Universität Hamburg am Europa-Kolleg. Hg. von Gerhard Lohse und Solveig Malatrait. Leipzig 2006, 67–100 (Beiträge zur Altertumskunde 224.)
Christian Felix Weißes Trauerspiel „Atreus und Thyest“ (1766). Die Untersuchung stellt die Frage nach der produktiven Rezeption jenes antiken senecanischen Trauerspiels, das den wahrscheinlich abstoßendsten Stoff der griechischen Klassik zum Thema hat. Seneca plaziert vor den Beginn der gesamten Handlung den aus der Unterwelt heraufgezwungenen Ahnherrn Tantalus, damit er das Haus des Geschlechts erneut mit der Raserei des Verbrechens anstecke, die sich somit nicht nur den Selbstanreizungen Atreus‘ verdanke, sondern auch aus tieferen Schichten des Bewussteins entspringe. Gerade dieser Zug fehlt bei Weiße, der als Aufklärer seinen Atreus in Reden und Taten letztlich auf die Ratio hin durchsichtig halten will. Atreus‘ Furor ist ein intermittierender Furor. Weiße arbeitet sich an seiner Figur ab aus dem Bedürfnis, Erklärungen für die Möglichkeit des Bösen in der Welt zu formulieren. Das geht genau genommen nur tautologisch, wofür Seneca schon schon vorgearbeitet hat. Wenn dessen monströse Helden und Heldinnen, wie man immer wieder gesagt hat, das schon sind, was sie erst werden wollen, dann schöpft Weiße diese ‚Oberfläche‘ ab: Das Böse wird für ihn begründbar über die Zitation Senecas. Insofern Weißes Atreus der senecanische Atreus ist, wird die Möglichkeit des Widernatürlichen und Widervernünftigen ‚bewiesen‘ aus der Literatur. Dem Bösewicht Atreus steht ein Thyest entgegen, den Weiße mit positiven Zügen zu versehen sucht. Im Kern von „Atreus und Thyest“ steht damit das Widerspiel zwischen den beiden Titelgestalten, mehr noch, das zwischen der älteren und der jüngeren, vor allem der jüngsten Generation, die es bei Seneca gar nicht gab. Den Mittelpunkt nimmt hier Aegisth als ein Jüngling des reinen Herzens ein. So kommt gegenüber den Beständen aus der Antike ein genuiner Zug des 18. Jhdts. in Weißes Stück zum Tragen, das ‚Herz‘, das zum ‚Mitleid‘ geneigt und sensibel für Tränen ist. Damit kommt der junge Mann nicht weit. Wenn er auf Manipulationen seiner Mutter hin Atreus tötet, ist diese Vernichtung der moralischen Person in Aegisth der im Sinne Weißes tragische Schluss des Dramas. – Verallgemeinerung der Befunde im Blick auf zwei weitere Dramen des Autors: „Eduard der Dritte“ (1759) und „Rosemunde“ (1763); zum tieferen Verständnis herangezogen wird zudem Johann Georg Feders verbreitetes „Lehrbuch der praktischen Philosophie“ (1770).